Ewald Nörr

Ewald Nörr wurde im Jahre 1905 in Berlin geboren. Durch seinen vielseitig gebildeten Vater, Dr. Eugen Nörr, wurde er bereits in sehr jungen Jahren mit philosophischen, religiösen und naturwissenschaftlichen Themen bekanntgemacht. Im Hause seiner Eltern trafen sich die verschiedensten Menschen, um weltanschauliche, soziale und religiöse Fragen zu erörtern. Mit dem Vetter seines Vaters, dem Theologen Adolf von Harnack, der vom letzten deutschen Kaiser für seine bedeutenden Arbeiten geadelt wurde, gab es viele Gespräche. Durch die Freideutsche Jugendbewegung, die um 1900 entstand, mit ihrer Begeisterung und Spiritualität, wurde er entscheidend mitgeprägt. Walter Laqueur schrieb einmal, dass die deutsche Jugendbewegung ein gewaltiger spiritueller Aufbruch der Jugend war.

Nach dem Heimgang seines Vaters erfuhr Ewald Nörr im 20. Lebensjahr eine völlige geistige Umwandlung, die sich über einen Zeitraum von drei Tagen und drei Nächten erstreckte und sein Leben veränderte. Er widmete  sich unablässig dem Studium der biblischen Schriften und lernte, sie im hebräischen und griechischen Grundtext zu lesen. Er erforschte in den großen Bibliotheken Berlins im Selbststudium die Kirchengeschichte,  studierte die Archäologie des Altertums, Geschichte, Staatswissenschaften, Philosophie und vieles andere. Er durchforstete die kabbalistischen Schriften, den Talmud und die rabbinischen Kommentare und erwarb sich dank seiner Intelligenz und raschen Auffassungsgabe und seines Gedächtnisses ein vielseitig fundiertes Wissen, das ihm bei seinen Vorträgen, Ansprachen und in vielen Gesprächen mit anderen Menschen zugute kam.

Nach dem Zusammenbruch des Nazireiches fing er in dem zerstörten Berlin sofort an, seine besondere spirituelle Botschaft zu verkündigen.  Aufgrund vieler persönlicher Erfahrungen war er inzwischen  zu einem überzeugten Pneumatiker und Mystiker geworden. Ewald Nörr hat diese Überzeugung  auch seinen früheren kirchlichen und freikirchlichen Freunden gegenüber verfochten, mußte aber erleben, daß sich diese nun von ihm abwandten. Er hat jedoch den von ihm eingeschlagenen und konsequent durchgeführten Weg niemals bereut und fand viele neue Freunde in den Kreisen der  Esoteriker und Mystiker. Während einer Tagung in der Schweiz wurde er, der selbst u.a. verschiedene Briefe des Paulus übersetzt hatte, einmal nach der besten Bibelübersetzung gefragt. Darauf gab er folgende Antwort:

"Wissen Sie, welches die beste Bibel nach paulinischer Meinung ist? Paulus sagt: 'Ihr sollt lebendige Briefe sein, nicht geschrieben mit Tinte und Feder auf Pergament, sondern mit dem Griffel des ewigen Geistes in eure Herzen hinein!' Es geht um das Leben aus dem Geist und nicht aus dem Buchstaben. Jeder spirituell eingestellte Mensch sollte aus dem Geist leben. Dann wird er dem anderen dienen können, wie dieser es braucht. Dann wird er vor allen Dingen auch eines erlangen, und das ist sehr wichtig: eine königliche Freiheit.

Diese wünsche ich besonders unserer Jugend und auch den Alten und den Frauen. Wir werden sie bald sehr nötig haben. Wir können schon die Signale einer großen Auseinandersetzung näher und näher kommen hören für Europa, die USA, den schwarzen Erdteil und Lateinamerika. Diese Auseinandersetzung ist unausweichlich. Dabei wird sich keiner an irgendeine Weltanschauung anlehnen können, an keine Kirche, keine Denomination, auch nicht an eine Philosophie. Bei dieser Auseinandersetzung wird der Mensch letztlich ganz allein stehen."

Ewald Nörr kam in seinen Vorträgen und Aussprachen immer wieder auf die Erfahrungen in den Kellern der Gestapo zu sprechen, die er machte, als er von der Gestapo abgeholt und verhört wurde. In dieser Zeit befand er sich "jenseits der Todeslinie". Er berichtet darüber:

"Als ich als Gestapo-Gefangener in der Todeszelle in der Nähe des Alexanderplatzes war, stand ich ganz allein. Da flog mir ein kleiner Zettel durch das Kellerfenster hinein in meine Zelle, in der es kein Bett und keinen Stuhl, nichts gab, und das war ein abgerissener Zettel von einem katholischen Kirchenblatt. Ich hob ihn auf, küsste ihn und sagte: 'So grüßt du mich also, Vater!' Mir kam es nicht auf die Denomination, auf die Religion, auf das Bekenntnis an. Ich stand ja ganz allein, die drei roten Kreuze auf dem Aktenbogen, die bedeuteten: Jede Rückkehr unerwünscht! - Und dann kam ich in Situationen, in denen es mir nicht möglich war, irgendeine religiöse Schrift zu lesen, das war einfach unmöglich. So musste ich aus dem leben, was innerlich vorhanden war. Das sieht dann ganz anders aus."

Er hat ganz praktisch erfahren, dass dann, wenn man aus seinem innersten Wesen, dem göttlichen Selbst, heraus lebt, die Angst vor dem Tod vergeht. Als die Nazischergen ihm sagten, dass sie ihm augenblicklich eine Kugel durch den Kopf schießen könnten, entgegnete er ihnen: "Tun Sie das. Sie können mir nichts Schöneres tun, als mich vom Tod ins Leben zu befördern!" Dies war der Gestapo etwas völlig Unverständliches, und sie taten ihm nichts. Als er zum Verhör geführt wurde, öffnete er sein Hemd und rief mit nacktem Oberkörper dabei laut die folgenden Verse:

"Löwen, wachet wieder auf wie in allerersten Tagen, die in ihrem Martyrlauf ohne Zittern und ohn' Zagen gingen zum Todestribunal und von dort zum Hochzeitssaal!"

Und es wurde ihm kein Haar gekrümmt. Ewald Nörr wurde zweimal von der Gestapo abgeholt und in das Gestapo-Gefängnis gebracht. Er kam unversehrt wieder nach Hause. Damals sagte er in prophetischer Voraussicht zu seinen Angehörigen: "Wenn meine Gegner eines Tages alle nicht mehr sein werden, dann werde ich in Berlin und anderswo das Evangelium, die frohmachende Botschaft, verkündigen!" Genauso ist es gekommen. Unablässig widmete er sich der Verkündigung seiner Erkenntnisse in Wort und Schrift. Seinen unerschöpflichen Humor und seine innere Zuversicht, mit der er viele Menschen in Deutschland, der Schweiz und Österreich begeistern konnte, hat er bis zu seinem Heimgang am 15. Dezember 1972 beibehalten.


Der mit ihm befreundete Schriftsteller K.O.Schmidt schrieb in einem Nachruf in der Zeitschrift „Esotera“ im Februar 1973:


In zahllosen Vorträgen in Deutschland und der Schweiz und auf Tagungen mit Schriftleiter Hans Geisler wurde das innere Wort durch ihn laut, und seine Hörer spürten, wie durch ihn der göttliche Geist, das ewige Selbst, sprach. Er schöpfte seine inspirierten und inspirierenden Ansprachen unmittelbar aus dem Meer der göttlichen Weisheit, mit dem wir alle, wenn auch in unterschiedlichen Bewußtseinsgraden, verbunden sind. Wenn man ihn hörte, spürte man, wie aus dem Quellbrunnen eines erleuchteten Herzens der Strom schöpferischer Erkenntnis sprudelte, wie wir es von den großen christlichen Mystikern, den Sufimeistern, den Chassidisten, Vedantisten und Taoisten kennen, die sich mit dem Geist des Ganzen eins wußten. Ewald Nörr wurde nicht müde, seinen Hörern bewusstzumachen, wie innig jeder von ihnen mit dem Geist des Ganzen verbunden sei und unmittelbar zu ihm heimfinden könne, wenn er den Weg nach innen geht: den Weg des entflammten Herzens. Er demonstrierte die Wahrheit der Verheissung: 'Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden das Ewige, Göttliche schauen.' Reinen Herzens spendete Ewald Nörr bis zuletzt das Wasser des Lebens aus dem Ozean universaler Weisheitsfülle und wies seinen Hörern Wege zu eigener Erleuchtung und Vollendung, auf die hin, wie er sagte, jeder in seinem inneren Wachstum angelegt sei: auf die Erkenntnis seines göttlichen Selbst und auf das Erwachen zum Reiche Gottes in ihm."